Erdogans Angst | Die Türkei, die Istanbulkonvention und die Rechte der Frauen

Live-Stream mit Berivan Aymaz und Ulle Schauws am 14.06.2021

Was hat der Austritt der Türkei aus der „Istanbul-Konvention“ mit uns hier in Deutschland zu tun? Viel, auf vielen Ebenen. Darin waren sich die Diskutierenden im Live-Stream einig. Der Kreisverband der GRÜNEN in Herford hatte in Kooperation mit der GRÜNEN JUGEND zum digitalen Austausch geladen. Mit Maik Babenhauserheide vom Kreisverband und Berkay Cengiz von der GRÜNEN JUGEND sprachen die GRÜNEN-Politikerinnen Berivan Aymaz und Ulle Schauws. Zum Einstieg erläuterte Ulle Schauws, frauen- und queerpolitische Sprecherin der Grünen Bundestagsfraktion, was die „Istanbul-Konvention“ überhaupt ist: „Sie verpflichtet den Staat, der sie ratifiziert hat, Frauen und letztlich alle vulnerablen Gruppen umfassend vor Gewalt zu schützen, Prävention zu betreiben und die Strafverfolgung entsprechend zu gestalten.“ Die Konvention, die in Istanbul unterzeichnet wurde und daher ihren Namen hat, wurde auch von Deutschland und der Türkei ratifiziert. Im März ist die Türkei nun überraschend aus der Konvention ausgetreten. Und setzt damit ein klares Signal, dass Gewalt gegen Frauen – ob physisch, psychisch oder verbal – vom Staat nicht länger wichtig genommen und abgelehnt wird.

Berivan Aymaz, Landtagsabgeordnete und Sprecherin für Integrationspolitik, Flüchtlingspolitik und Internationales ordnet das in die Entwicklung der Türkei ein: „Wenn im Bereich der Demokratie abgebaut wird, sind es vor allem Dingen auch Frauen, die ganz schnell ihre Rechte verlieren. Das beobachten wir inzwischen auch in vielen anderen Ländern.“ Ulle Schauws hält die Einschränkung der Frauenrechte für den ersten Fingerzeig auf das Entstehen eines autokratischen Systems: „Den Frauen fehlt oft die Lobby, die Einschränkungen werden schweigend hingenommen. Aber danach folgt der Dammbruch und sukzessive Einschränkung weiterer Rechte.“ Dadurch hätte die „Istanbul-Konvention“ eine so hohe Relevanz, auch in Deutschland. Denn auch hier nimmt sie wahr, dass sich konservative Kräfte formieren, die Frauenrechte eher zurückdrehen wollen. „Wir brauchen eine emanzipatorische Politik auf Augenhöhe, Gleichberechtigung,“ um dieser Entwicklung entgegenzuwirken.

Maik Babenhauserheide, Bundestagskandidat im Wahlkreis 133 Herford – Minden-Lübbecke und Vorsitzender des Integrations- und Gleichstellungsausschusses im Kreistag weist daraufhin, dass auch der „sichere Hafen“, den die Türkei für queere Flüchtende aus dem arabischen Raum bot, mit dem Aussetzen der „Istanbul-Konvention“ wegbricht. Der Aufschrei der anderen ratifizierenden Staaten ist Ulle Schauws insgesamt viel zu leise gewesen.

Berivan Aymaz kritisiert, dass es von Seiten der Bundesregierung in zahlreichen Fällen von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu viel Zurückhaltung gibt und Sanktionen gegen Erdogan verhindert werden. Dies läge ein Stück weit am Abhängigkeitsverhältnis durch den sogenannten Flüchtlingsdeal. Dieser verstoße ohnehin gegen EU-Recht, das sei inakzeptabel, und auch „dass ein Autokrat sozusagen zum ‚Türsteher‘ gemacht wird, um Menschen, die auf der Flucht sind, von uns fernzuhalten.“

Leider führe Kritik an der Regierung in Ankara aber auch dazu, dass Politiker*innen in Deutschland von der Türkei aus angegriffen und eingeschüchtert werden. Berivan Aymaz hat das vor Kurzem am eigenen Leib erfahren, als sie sich gegen die erneute Zusammenarbeit mit der Ditib beim Islam-Unterricht in Schulen ausgesprochen hat. „Aber ich habe sehr schnell eine enorme und parteiübergreifende Solidarität erfahren, das ist ein Novum und ich bin sehr dankbar dafür. Das ist ein stärkendes Zeichen.“ Viele Menschen mit türkischen oder kurdischen Wurzeln würden sich häufig nicht trauen, ihre Meinung frei zu äußern, da sie mit Schwierigkeiten bei Reisen in die Türkei oder für ihre Angehörigen fürchteten. Auch Berkay Cengiz berichtet davon, da er Angehörige in der Türkei hat, die er regelmäßig besucht. Lange hat er sich nicht getraut, offen zu sprechen, aber die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei kann er einfach nicht länger ignorieren. Er wünscht sich, dass es in der Türkei bald wieder eine demokratische Regierung gibt. Alle sind sich einig: „Es gibt eine Türkei neben Erdogan.“ Und die schätzen alle sehr.

Der Live-Stream wurde aufgezeichnet und kann unter https://maik-babenhauserheide.de/themen/internationales/erdogans-angst-die-tuerkei-die-istanbul-konvention-und-die-rechte-der-frauen/ abgerufen werden.